Oh Du Fröhliche: Wer kümmert sich eigentlich um die Bedürftigen in den deutschen Flüchtlingslagern?

30 November 2011
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Elend, Lager, Selbstmord - wie Flüchtlinge in Deutschland „leben“43d242d4e15d44908a52d808e93f8124

Weihnachten und das dazugehörige allgemeine, harmonische Gutmenschengewese ist vorbei. Gott sei Dank. Wir können unser Gewissen wieder wegsperren. Der Baum, den wir eh bloß wegen den Kindern und der Oma noch aufstellen, damit die nicht herumgreinen, wird entsorgt. Und aus Radio und Fernsehen psalmen uns nicht mehr diverse bekannte Köpfe mit wohltätigen Möglichkeiten voll, also: Spenden.

Etwa der Elstner Frank, der seit gefühlten 300 Jahren auf allen öffentlich-rechtlichen Kanälen mit unseren Gebühren um unser Geld schleimt. Ein neues Jahr fängt an, und die Menschen beschäftigen sich, womit sie sich am liebsten beschäftigen: mit sich selbst. Da ist es kein Wunder, dass die Entsetzensschreie bezüglich dem „Naziterror“ leiser werden, bis sie irgendwann verklingen, um bei einer neuen Bombe oder einem frisch niedergestochenen Menschen wieder anzuheben. Wem das zu lange dauert, der kann sich derweil widerliche und wunderbar tolerierte menschenfeindliche Seiten wie: www.besseres-hannover.info ansehen, bis er den angefressenen Weihnachts- und Silvesterspeck wieder ausgekotzt hat.

Aber vergessen wir doch die alten Kamellen, die ewig Gestrigen, ein neues Jahr ist angebrochen. Ein neues Jahr so scheint es, ist ein Schluck aus dem Jungbrunnen, der Ablass aller Sünden, den wir mit aberwitzig viel Geld in der Adventszeit erkauft haben (für 2011 prognostiziert der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels einen vorweihnachtlichen Umsatz von 78 Milliarden Euro für die diversen Geschenke und 2009 haben die Deutschen 97 Millionen Euro für weihnachtliche Schoko-Gestalten ausgeben1) – ein neues Jahr ist eben wie ein neues Leben; eine neue Chance.

Ein neues Leben, eine kleine Chance auf ein Leben wollen auch die Menschen, die bei Tobias Klaus und seinen Kollegen Hilfe suchen. Eigentlich wirkt Klaus wie ein Student, der gerade in der WG-Küche Kaffee kocht: jugendlich, gescheit und auf dezente Art fröhlich. Aber Klaus ist Mitarbeiter in der Geschäftsstelle des Bayerischen Flüchtlingsrates, und in den Ratsräumen kocht er den Kaffee. Er kümmert sich hier täglich um die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen, Schwerpunkte: Irak, Bleiberecht, Jugendliche Ohne Grenzen, Rechtshilfe. Ihn und seine Kollegen tangiert das oben genannte Internetgeschwür auch, denn auf dieser Seite tanzt der durchgeknallte „AbschiebBär“ durch Hannover und erklärt, dass er „Jimbo“ und „Mustafa“ wieder nach Hause „eskortiert“. Hier hat sich der versteckte Rassismus sehr gut versteckt.

Klaus bringt den Kaffee, setzt sich, kippelt ein wenig mit seinem Stuhl und beginnt zu erzählen. Er erzählt die traurige Geschichte von Flucht, Vergessen und Vegetieren. Und allem voran steht seine Meinung: „Für Asyl bewirbt man sich nicht, man hat ein Recht darauf!“ Hier beginnt der Kampf, den Klaus und Kollegen mit den Flüchtlingen gegen Politiker, Behörden, Rassismus, aber auch Politiker führen. Per Gesetz ist ein Flüchtling erst dann ein Flüchtling, wenn er staatlich als Flüchtling anerkannt ist. Anerkannt wird, wer individuell bedroht ist, durch den Staat oder sexuelle Gewalt.

Wenn also Godzilla auf Japan eindrischt, nehmen wir keine Japaner auf, weil Godzilla keinen Japaner individuell bedroht durch Vergewaltigung oder Schutzgelderpressung. Den Fluchtgrund muss man vor den Behörden immer offen legen. „Aber die meisten schämen sich zum Beispiel über sexuelle Gewalt zu reden“, sagt Klaus und erklärt in seiner dezent ärgerlichen Art, dass man viele mit dem Anspruch der individuellen Bedrohung ablehnen kann. Ja mei, Asylanten-Integration ist seitens des Staats halt nicht erwünscht. Erwünscht ist: gar nicht erst herkommen oder ein baldiger französischer Abgang.

Seit 2006 bemüht Klaus sich um jene, an die angeblich in der Weihnachtszeit alle denken und die wir in Wirklichkeit absichtlich vergessen: die ganz, ganz Armen. Gegen eine Flüchtlingsfamilie lebt eine Hartz-IV-Familie „fast im Luxus“, wie Klaus sagt, „vorsichtig formuliert“. Er lächelt ein trauriges Lächeln, nachdem er sich selbst relativiert hat. Klaus und seine Kollegen müssen vorsichtig sein, damit sie niemanden verärgern. Flüchtlinge müssen das auch. Doch trotz aller Vorsicht, trotz allem Bemühen, nicht aufzufallen, sind die Geduldeten unter uns beliebte Opfer von Personenkontrollen. Sie sind die Stichproben, wie Klaus berichtet, die von der Polizei aus der Menge, zum Beispiel am Münchner Hauptbahnhof, ausgesucht werden. Und weil sie Flüchtlinge sind, vielleicht ohne Pass, werden sie mal ein bisschen rangenommen.

Die Folge ist Angst. Angst, in der die Flüchtlinge sowieso ständig leben: „Wann werde ich abgeschoben?“ Und dann fordert wieder ein Deutscher vom Amt, dass man den Pass besorgt. Wenn man den aber besorgt, ist man sofort abgeschoben. „60 Prozent von ihnen“, sagt Klaus, „leben seit sechs Jahren hier bei uns, ohne zu wissen, wann oder ob sie abgeschoben werden.“ Wenn man dann von ihm hört, dass Kinder wachliegen und hören, wie ihre Nachbarn um 4 Uhr früh abgeholt werden, schiebt sich automatisch eine Erinnerung dazwischen, eine deutsche Erinnerung, die so schnell nicht verschwinden wird.

Die Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, finden stattdessen ein Dasein in Angst, nicht nur vor der Abschiebung: Naziterror, AbschieBär, rechte Gewalt, der ganze ekelhafte Sumpfsums, für den man genauso blind ist wie für die elendige Situation in den „Flüchtlingslagern“.

„Den Begriff ,Flüchtlingslager‛ mag das Bayerische Sozialministerium nicht hören, das ärgert die am meisten“, sagt Klaus und lächelt ein breiteres Lächeln. Die offizielle Definition der Lager ist „Gemeinschaftsunterkünfte für Asylbewerber“. Hört sich nett an, sieht scheiße aus. In diesen Lagern werden Menschen mit winzigen Kammern, zwei Mal pro Woche minderwertigem Essen und ein Mal pro Monat 40,90 Euro „Taschengeld“ verwöhnt. Ei, ei, Deutschland, du Wohlfahrtsstaat. Das Taschengeld kann durchaus auf 0,00 Euro geschmälert werden, wenn ein Iraker seinen Pass nicht besorgt. Aber wenn er ihn besorgt, wird er abgeschoben.

Die ablehnende Haltung des Ministeriums gegenüber dem Rat ist indes leicht zu verstehen: Hier kümmern sich Menschen um Menschen, die der Staat gerne totschweigen würde – und die an ihrer Behandlung tatsächlich sterben. Nicht nur weil sie Dreck zu essen bekommen, den man nicht mal seinem Haustier gäbe, wenn man bei Verstand ist. Die psychische Belastung treibe viele Schutz- und Asylsuchenden in den Selbstmord, sagt Klaus. Da mag einem fast der Kaffee wieder hochkommen. Menschen werden mitten unter uns ihrer Würde beraubt und psychisch so lange vergewaltigt, bis sie hier das finden, vor dem sie geflohen sind: den Tod. Die ablehnende Haltung der zivilen Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen ist zweifellos eine Mischung aus Medien- und staatlicher Hetze (allen voran wieder einmal BILD; das heiße Springerblatt hat zum Beispiel 2006 gegen sogenannte „Asylbetrüger“ angeschrieben) und die Urangst vor dem Unbekannten.

In den 90ern war die Stimmung allerdings viel schlimmer, meint Klaus. „Aus dieser Zeit kommt ja das mit den Ehren- und Dönermorden.“ Jetzt, 2011/2012, finden sich immer mehr Helfer für den Rat. Der Slogan „Drei Bier oder wir“ zieht. Wer helfen will, muss jedoch nicht zwingend Geld spenden. Es werden zum Beispiel Ärzte gebraucht, die Flüchtlinge kostenlos behandeln, und politisch aktive Menschen, die für andere auf die Straße gehen.

Die Familien sind wegen ihrer Armut von der Gesellschaft abgeschottet und diskriminiert. Die Kinder der Flüchtlinge haben auch in der Weihnachtszeit keinen Grund für glänzende Augen oder strahlende Gesichter. Ihre Gesichter passen anscheinend gar nicht zu ihren jungen Körper, so viel älter wirken sie, so viel älter müssen sie sein. Weil sie sich um ihre Eltern kümmern. Die Kinder lernen Deutsch in der Schule und müssen Papa und Mama bei Behördenbriefen helfen. Deswegen sehen diese Kinder so erwachsen aus. Laut Klaus ist die Schule für diese jungen Menschen Chance, Motivation und ein Erfolgserlebnis. Sie gehen gern in die Schule, lernen gerne Deutsch. Sie wollen dazugehören – aber sie können nicht; sie sind zu arm. Wenn die anderen in den Fußballverein gehen, sitzen die Flüchtlingskinder im Lager.

Das schon für Deutsche schwer verständliche Bildungs- und Teilhabepaket ist für Flüchtlinge unerreichbar. So wird der Nachwuchs der Flüchtlinge automatisch ausgegrenzt. Und keine sozialen Kontakte heiße: keine beruflichen Chancen, rechnet Klaus vor. „Das ist volkswirtschaftlicher Irrsinn.“

Mara Bertling, Leiterin der Initiative DEIN MÜNCHEN, findest es „unglaublich“, was die jungen Flüchtlinge durchmachen. „Vor allem, wenn man bedenkt, dass jeden Monat 250 Kinder unbegleitet in unserer Stadt ankommen und teilweise unfassbare Strecken hinter sich haben.“ Freilich, kann man jetzt sagen, wissen die in diesen Einrichtungen Bescheid, die müssen sich ja damit beschäftigen. Ganz genau, das müssen „die da“. Die Politik tut es nämlich nicht, der normale Bürger tut es auch nicht, und wenn keiner die Drecksarbeit machen mag, dann braucht man eben sozial engagiertes Personal, das hinter der kapitalistischen Stampede aufwischt, während die Büffel schon die nächste Weide abgrasen.

Dass der „Normalo“ so wenig von diesem Thema weiß, liegt freilich auch daran, dass uns niemand anständig informiert. Wer sagt denn schon: „Spatzl, lass uns doch heute mal in die Augsburger Straße 13 fahren, um uns ein bisschen über den Bayerischen Flüchtlingsrat zu informieren. Die haben da auch ganz tolle Flyer und Infozeitungen“? Wer liest zum gemütlichen Sonntagsfrühstück oder als Abendlektüre schon gerne die vom Rat herausgegebene Zeitschrift „Hinterland“?

Weil Flüchtlinge arm und fremd sind, werden sie zu gerne vergessen. Und weil sie vergessen werden, sind sie arm und fremd. Es ist ein künstlich erzeugter Kreislauf, der mörderisch ist und den wir alle mit unserer Indifferenz am laufen halten. Zu helfen ist aber nicht immer einfach. Selbst wenn ein Unternehmer Flüchtlinge einstellen will, über die Gefahr hinwegsieht, dass der eingelernte Arbeiter nach drei Monaten abgeschoben werden könnte, ist die Prozedur, bis der Flüchtling eingestellt werden kann, so abstoßend aufwendig, dass ihm bestimmt die Lust vergeht. Außerdem haben die Geflüchteten nach einem Jahr Aufenthalt bei uns sowieso bloß einen „nachrangigen“ Arbeitsmarktzugang.

Das heißt: erst einmal bekommen Deutsche und Europäer die Jobs, dann die anderen. „Diese Menschen werden daran gehindert, ihren Lebensweg zu leben“, sagt Klaus und runzelt die Stirn. Er findet es seit seiner Jugend ungerecht, dass wenige Menschen sehr viel haben und sehr viele Menschen nichts. Kapitalismus, klar. Und der sei sehr anpassungsfähig, meint er. „Widerstand … Widerstand geschieht deshalb nicht, weil die meisten Angst haben, bequem sind und weil sie keine Erfahrung bezüglich Widerstand haben. Wenn sie sehen, dass sich Widerstand lohnt, dann machen sie auch was.“

Es wird wohl leider länger nichts werden mit dem Widerstand. Wir müssen uns ja auch erst mal um gute Vorsätze und Umsätze und so kümmern. Damit haben wir genug zu tun. So viel, dass wir gegenüber Problembären aus Hannover hilflos die Schultern zucken.

Und während „Der AbschieBär“ lustig durch die Lande streunt und die Menschenwürde mit seinem bösartigen Kasperltheater zu Tode tanzt, die Nachbarin sagt: „Das sind Polen. Sind aber doch ganz nett.“, lassen wir noch Herrn, Manager und CDUler Lothar Späth zu Wort kommen, der (stellvertretend?) forderte, dass “die Buschtrommeln in Afrika signalisieren: kommt nicht nach Deutschland, dort müsst ihr ins Lager.“

Eben das wahre Gesicht eines Christen in einer "christlich"-anrüchigen Volkspartei.

Mehr Informationen über den BFR und „Hinterland“ finden Sie unter: www.fluechtlingsrat-bayern.de und www.hinterland-magazin.de.

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Andrea Limmer

Freie Journalistin

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